Project:
Contact:
Object:
Type:
3D-print of ETH
Location:
Zurich [satellite]
Country:
Switzerland
Architect:
Materials:
concrete
Published:
SBD 6/2021
Pages:
24 - 28
Content:
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Weisser Turm in Mulegns/Graubünden

Industrieroboter als Zuckerbäcker

In Mulegns im Bündner Oberhalbstein- Tal entsteht ein temporärer Turm. Das fantastisch anmutende Gebilde ist ein Gemeinschaftsprojekt des Kulturfestivals Origen und einem Forscherteam der ETH. Was nach Zuckerguss aussieht, entpuppt sich bei genauem Hinsehen als Konstruktion aus Betonfertigteilen – aufgeschichtet von Robotern.
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Fantastische Bühnen
Für den Intendanten des Origen Festival Cultural leidet der zeitgenössische Theaterbau unter Fantasielosigkeit. Einen Vorwurf, den man Giovanni Netzer definitiv nicht machen kann. Im Gegenteil: Seit er das Festival im verschlafenen Riom 2007 ins Leben gerufen hat, überrascht er sein Publikum kontinuierlich mit neuen ungewöhnlichen Aufführungsorten; bespielt wurden unter anderem Festungen, Ställe und Staumauern. Grosse Bekanntheit hat beispielsweise der rote Holzturm auf dem Julierpass erlangt, der 2017 errichtet wurde und voraussichtlich in zwei Jahren wieder abgebaut wird.
Doch Netzer hat bereits den nächsten phantastischen Turm in der Pipeline. Orientierte sich der rote Holzbau unter anderem an Vorstellungen vom Turm zu Babel und am Castell del Monte, wird der für 2023 projektierte Bau ein fantastisches Gebilde sein, das an Sets von Fantasy- Filmen erinnert – irgendwo zwischen Elfenbeinturm und Rivendell.
Der Turm wird zugleich Landmarke, Aussichtsturm und Spielstätte des Festivals sein. Das fünf Etagen hohe Gebilde wird über eine zentrale Wendeltreppe erschlossen. Das Erdgeschoss fungiert als Lobby und eine höhere Etage als Foyers. Auf drei eher geschlossenen Geschossen mit Kolonnaden wird eine Laterne mit zwei Ebenen aufsitzen. Die 104 Pfeiler und Säulen evozieren verschiedene Assoziationen. Sie erinnern an Schnitzereien aus Graubünden, barocke Stuckaturen oder Graffitos aus dem Engadin und sind ein Amalgam von diffusen Referenzen der Architekturgeschichte zwischen Vesera- Stil und Schirmgewölben der späten Gotik.
Giovanni Netzer verweist für die Bauten des Riom- Festivals gerne auf verschiedene Geschichten aus der Region als Inspirationen. Beispielsweise auf die Auswanderer, die in den Städten des heutigen Italiens als Zuckerbäcker zu Wohlstand gelangten und sich dann in ihrer Heimat reich verzierte Villen erbauen liessen. Auch der weisse Turm, der als kühne Kreation aus Baiser gelesen werden kann, gehört in diese Gruppe. Und wenn man weiss, dass er von einem Industrieroboter aus «Betonteig» in Schichten aufgespritzt wird wie Baiser, dann bekommt diese Narration einen zusätzlichen Layer.
Viele Köche zaubern den Brei
Federführend für das White Tower- Projekt ist Benjamin Dillenburger. Er ist Professor für Digitale Bautechnologien am Departement Architektur der ETH Zürich. Zusammen mit dem Lehrstuhl Physical Chemistry of Building Materials von Robert J. Flatt am Institut für Baustoffe (IfB), sowie mit der Professur für Massiv- und Brückenbau von Walter Kaufmann und weiteren Kollegen aus dem Nationalen Forschungsschwerpunkt Digitale Fabrikation, werden derzeit Fertigungskonzepte für den Turm entwickelt.
Anders als beim ersten, in Deutschland gedruckten Wohngebäude in Beckum setzt die ETH nicht auf eine vektorbasierte Anlage (ein so genanntes Gantry- System), sondern auf eine robotische Fertigung. Es gibt also kein dreidimensional angeordnetes Schienensystem, auf dem ein Druckkopf entlang gleitet, sondern einen Roboterarm, der den Kopf führt. Das System ist flexibler und bietet grössere räumliche Freiheiten wie beispielsweise eine geneigte Linienführung. Mit dem deutschen 3DDruck- Projekt hat das Verfahren der ETH jedoch gemeinsam, dass es sich um ein Extrusionsverfahren handelt. Der verwendete Beton besitzt eine hohe Frühfestigkeit und wird ohne eine Schalung Lage für Lage aufgetragen.
Digitale Ikonografie
Der Schwerpunkt der Forschung des Lehrstuhls von Robert J. Flatt ist die Entwicklung einer geeigneten Betonrezeptur. Die strukturellen Aspekte des 3D-gedruckten Turms werden von der Professur für Massiv- und Brückenbau von Walter Kaufmann untersucht. Professor Andreas Wieser vom Lehrstuhl für Geosensorik und Ingenieurgeodäsie wiederum forscht an der Vermessung und Formkontrolle.
Der Turm wird nicht in-situ an seinem Standort erstellt. Vielmehr wird er aus Einzelelementen bestehen, die nacheinander ausgedruckt und dann zusammengesetzt werden. Erfolgen soll das mit einem institutseigenen Roboter von ABB, der aktuell im Labor auf dem ETH- Campus in Zürich steht. Der «Beton- Plot» soll aber nicht auf dem Hönggerberg erfolgen, sondern in Mulegns in einer Feldfabrik. Das Team der ETH Zürich versucht im Rahmen dieses Projektes auch die Frage zu lösen, wie Anschlussdetails 3D-gedruckt und wie Strukturen im Gebäudeinneren mit diesem Verfahren erstellt werden können. Der 29 Meter hohe Turm wird auf einem bestehenden 8 x 8 Meter grossen Fundament einer Garage zu stehen kommen. Diese wird abgetragen und die dazugehörigen zwei Untergeschosse – die Garage steht auf dem Grat eines steilen Abhangs – entsprechend statisch ertüchtigt.
Der Entwurf ist eine Synthese aus den Wünschen und Vorstellungen der Nova Fundaziun Origen für einen Theaterturm und einer städtebaulichen Analyse seitens des Lehrstuhls für Digitale Bautechnologien unter besonderer Beteiligung des Architekten Michael Hansmeyer. Für Dillenburger geht es bei dem Projekt auch um die formale Frage, wohin sich der 3D- Druck ikonografisch bewegt: Generiert man vollflächig betonierte Betonbauten, oder realisiert man eher Betonskelettbauten, welche die konstruktiven Möglichkeiten des Betons besser nutzen, weil grössere Öffnungen möglich sind? Der Turm verfolgt den zweiten Ansatz. Der klimatische Abschluss vollflächige Verglasung. Die Aussenwände der unteren Bereiche sollen hingegen doppelschalig gedruckt werden und die Zwischenräume mit dämmendem Schüttmaterial verfüllt werden.
Nachleben
Auf die Termine für Baubeginn und Fertigstellung will man sich noch nicht festlegen. Angestrebt sind jedoch ein Start der Konstruktion in den Wintermonaten 2021/22 und die Fertigstellung im übernächsten Jahr. Dann sollen die ersten Performances im Turm stattfinden. Gemeinsam mit dem ebenfalls im Dorf gelegenen Hotel Löwen, das von Nova Fundazione Origen renoviert wurde, wird er Mulegns zum neuen Hot Spot des Festivals machen.
Begonnen wird mit dem Druck und der Montage eines kompletten Geschosses. An diesem sollen letzte noch offene Fragen geklärt werden, insbesondere was die Statik des Systems anbelangt. Das geschätzt CHF 2.5 Mio. teure Projekt soll zudem einfach wieder zerlegbar ein. Auch wenn seine Nachnutzung noch vollkommen offen ist, werden die Teile des Turmes nicht miteinander vergossen. Die Möglichkeit ihn 2028 an einem anderen Ort wieder aufzubauen, wurde im Entwurf also konsequent mitgedacht. Vielleicht wäre der Universal Themepark in Orlando ein potenzieller Kunde? Dort arbeitet man derzeit an einem «Herr der Ringe» Land...
Robert Mehl, Aachen