Project:
Contact:
Object:
TGV-station Liège-Guillemins
Type:
railway station
Location:
Liège [satellite]
Country:
Belgium
Architect:
Santiago Calatrava 🔗, Zürich
Materials:
steel, glass, concrete, precast concrete
Published:
DBZ-2 11/2009
Pages:
24 - 25
Content:
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Interview mit Santiago Calatrava

„Ein Architekt ist immer auch ein Bildhauer“. Nach dieser Überzeugung entwirft und gestaltet Calatrava seine Gebäude.
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Was war Ihre formale Intention bei dem Entwurf dieses Gebäudes?
Ein Architekt und Ingenieur ist immer auch ein Bildhauer. Allein der Unterschied in dem Selbstverständnis eines Bildhauers zu dem eines Architekten ist folgender: Ein Künstler erschafft, so wie etwa Henry Moore das in beeindruckender Weise getan hat, eine dreidimensionale Skulptur, die immer nur von außen betrachtet wird. Ein Architekt dagegen schafft ein Objekt, in das der Betrachter eindringt. Wenn ich ein Gebäude entwerfe, ist diese Penetration immer ein zentraler Gestaltungsaspekt. So war es auch hier. Wie wirkt der Bahnhof, wenn ich in ihn hineingehe? Wie nehme ich die Architektur wahr?

Warum hat die Bahnhofshalle die pyramidalen Baumstützen unter den Passerellen erhalten?
Diese Wirkung war nie beabsichtigt: Die Rampen haben keine übergeordnete statische Funktion. Der Querschnitt aller Bögen bildet eine Parabel, welche jeweils im Bereich der beiden Passerellen endet. Sie fungieren auch als eingespannte Querträger, welche die Kräfte aller Bögen bündeln und die Querkräfte reduzieren. Die Last wird dabei vertikal an die pyramidalen Stützen darunter abgeführt. Wenn man sich den Querschnitt des Bauwerkes genau anschaut, dann erkennt man, dass die Rampen schon außerhalb der Hallenkurve liegen. Sie könnten also gar nicht mehr die Vertikalkräfte aufnehmen und, wenn sie auf beiden Seiten vorhanden wären, die pyramidalen Stützen ersetzen. Diese bündeln vielmehr die Kräfte des Ober- und Untergurtes der Bögen perfekt in einem Punkt und leiten diese nach unten ab. Von dort werden die Kräfte in die Bahnsteige eingeleitet, wo großmaßstäbliche Zugstangen eingelassen sind, die der auseinander drängenden Last der Halle entgegenwirken. Sie erklären auch die leicht röhrenförmige Untersicht der Bahnsteige im Bereich der zentralen Passage. Im Grunde funktioniert also die Statik der Halle wie ein Flitzebogen.

Das Tragwerk des Daches besteht aus zahlreichen, nah beieinander angeordneten Stahlbögen großartiger Dimension. Jeweils an ihren Enden sind sie im Bereich der Passerelle eingespannt, dagegen berühren sie sich untereinander bis auf eine fragile Glasabdeckung überhaupt nicht. Dazu existieren keine aussteifenden Querverbindungen oder gar eine Diagonale. Wie war das konstruktiv möglich?
Das liegt daran, dass das Tragwerk statisch wie eine Schale wirkt. Die Querrippen und die Längsrippen sind untereinander eingespannt, so dass sie genügend Steifigkeit aufweisen, um als Schalenkonstruktion zu wirken. Die Höhe des Tragwerks beträgt im Scheitel 1,4 m bei einer Spannweite von 196 m. Damit hat man ein enormes statisches Verhältnis, das größer als 1:100 ist und die ganze Halle wirkt wie ein Flächentragwerk.

Werden dann im Rahmen der verteilten Flächenlast auch Kräfte über die Dachverglasung geführt?
Nein, nein, die Glasscheiben sind nur einfache Glasscheiben. Die Einspannung zwischen den Längs- und den Querträgern ist sehr massiv und reicht alleine vollkommen aus.

Das Gebäude ist sowohl zur Stadt wie auch zur Bergseite hin offen. Haben Sie nicht Sorge gehabt, dass in dem Bahnhof permanent Durchzug herrscht?
Das war am Anfang der Planung auch zuerst unsere Sorge. Doch dann haben wir erkannt, dass der Hügel einerseits so stark bewaldet ist, dass auftretende Winde durch die Bäume stark gedämpft werden und zum anderen ist die Halle schließlich so nahe an den Berg gebaut, dass dieser die Halle strömungstechnisch quasi einseitig verschließt. Und die Bestätigung, dass dieses auch tatsächlich zutrifft, haben wir ja unmittelbar noch während der Bauzeit durch das alltägliche Wettergeschehen erhalten.

Herr Calatrava, vielen Dank für das Gespräch!

Architekt Santiago Calatrava sprach mit Robert Mehl, Aachen