Project:
Contact:
Object:
Patch 22
Type:
apartment house
Location:
Amsterdam [satellite]
Country:
The Netherlands
Architect:
Materials:
glulam, CLT,timber-wall- & precast-concrete-elements
Published:
d+h 06/2017
Pages:
40 - 45
Content:
[article]      [image gallery]      
 

Patch 22 - höchstes Holzgebäude der Niederlande

Mit sechs Geschossen hart im Wind

Im früheren Hafenbereich von Amsterdam entstand ein sechsgeschossiges Wohn- und Geschäftsgebäude in tragender Holzkonstruktion. Es ist der höchste Bau seiner Art in den Niederlanden. Das Gebäude ist auf Abbrand angelegt: Das überdimensionierte Tragwerk kollabiert im Brandfall erst nach 120 Minuten.
[no english version available]
Unwillkürlich erinnert der Anblick der Fassade an lose gestapelte Wellpappen. Tatsächlich dachte Architekt Tom Frantzen mehr an Streichholzschachteln, allerdings genauso locker gestapelt. Patch 22 ist die Baufeldbezeichnung auf dem Gelände des früheren Flugzeugherstellers Fokker. Bei dem zurückgebauten Industrieareal handelt es sich um eines der letzten Neubaugebiete innerhalb des Amsterdamer Auto¬bahnrings. Die Stadt begrenzte den Kaufpreis auf 1,9 Millionen Euro und suchte dann das nachhaltigste Gebäudekonzept.
Brandschutz durch Überdimensionierung
Die Planer, Frantzen et al architecten, konnten mit einer überdimensionierten Tragkonstruktion aus Leimholzbindern die Verantwortlichen der Stadt überzeugen. Im Brandfall trägt die Konstruktion noch 120 Minuten weiter, bevor sie kollabiert. Dieser Brandschutz ist für die Niederlande neu, in der Schweiz hingegen wurde das Konzept schon beim Zürcher Tamedia- Gebäude angewandt (siehe dach + holzbau 5/2013). Der sechsgeschossige Bau ist eine Hybridkonstruktion, deren Sockel und Versorgungskern aus Betonfertigteilen bestehen, die sechs eigentlichen Wohngeschosse jedoch aus einer Pfosten- Riegelkonstruktion in 50/50er Leimholz. Das hat drei wesentliche Gründe:
1. Brandschutz
Natürlich sollte das Fluchttreppenhaus nach Möglichkeit nicht brennbar sein; in jedem Fall hätte aber vom Treppenhaus nach außen ein feuersicherer Fluchttunnel geschaffen werden müssen.
2. Kommerzielle Erdgeschossnutzung
Das Vermarktungskonzept sieht vor, in der Sockelebene vier gastronomische Gewerbeeinheiten unterzu¬bringen. Eine reine Holzkonstruktion hätte daher zu erheblichen Schallschutzproblemen geführt.
3. Windlast
Am wichtigsten war es jedoch, Masse zu schaffen. Eine reine, knapp 30 m hohe Holzkonstruktion wäre für die starken Küstenwinde zu leicht gewesen. Deshalb hätte der Bau in seinen Fundamenten zusätzlich gegen Zugkräfte gesichert werden müssen, was erhebliche Mehrkosten bedeutet hätte.
Verkantete Loggien
Markant sind die zueinander versetzten Obergeschossloggien mit ihren großformatigen Diagonalstreben, die die eingangs erwähnte Assoziation der lose gestapelten Wellpappen hervorrufen. Statisch sind sie kaum von Bedeutung, da sie zu weit außen, oft auch auf kleinen Kragarmen liegen, räumt Hubert Kuijpers, verantwortlicher Statiker von Peters Bouwtechniek ein.
Tom Frantzen, der Architekt, sieht in der Entwässerung der Loggiaauskragungen ein Schlüsseldetail seines Fassadenentwurfs. Eigentlich sollte die konstruktive Ausführung eines Flachdachs, dessen Abschlüsse und die Wasserführung ein Standardrepertoire der Planung sein. Beim Patch 22 schneiden die Flachdachvorderkanten jedoch spitzwinkelig die Fassadenebene und bilden ab diesem Punkt die Kehle zum Vordachüberstand. Dieses Detail unterscheidet sich grundsätzlich von der Vorderkantenausbildung eines Flachdachs, auch sitzt hier in der Regel kein Metallprofil.
Um hässliche Übergänge zu vermeiden, entschied sich der Architekt, das unvermeidliche Flachdachabschlussprofil unter den Loggien fortlaufen zu lassen. Natürlich musste es hier ganz anders profiliert sein als an der Dachkante. Letztlich verarbeiteten die Handwerker zwei unterschiedliche Profile, deren Übergang im Fassadennullpunkt sie so unauffällig wie möglich anarbeiteten.
Douglasie als Fassadenschalung
Während die Längsseiten des Gebäudes an der Nord- und Südseite durch Loggien geprägt sind, legte Tom Frantzen die Schmalseiten geschlossen an. Wird die Westfassade noch auf jeder Wohnebene von acht schmalen Fenstern rhythmisch gegliedert, so weist die Ostfassade keinerlei Öffnung auf. Ursache ist die nahe Grundstücksgrenze und die dort vorgesehene Nachbarbebauung. Hierfür entwickeln Tom Frantzen und sein Partner Claus Oussorren derzeit ein weiteres Apartmenthochhaus, wieder in Holzkonstruktion. Die geschlossenen Wandflächen haben einen U- Wert von 0,2 W/m²K. Sie bestehen aus Brettsperrholzelementen, die immer von der Laibung eines Schmalfensters zum nächsten reichen. Auch die Fensterstürze bestehen aus identisch aufgebauten Sandwichelementen, jedoch viel kleiner. Kernelement ist eine nach Kundenwunsch von innen beplankte, 22 cm dicken OSB- Platte, die schon im Werk eine 120 mm starke Dämmung aus Mineralwolle sowie eine Dampfsperre erhalten hat. Davor ordnete der Architekt eine konstruktiv zwischen 40 bis 190 mm variierende Luftschicht an. Mit Stahlankern gehalten, setzte er davor eine Douglasienlattung, die er auf eine schwarz lackierte Traverse nageln lies. Das Douglasienholz wurde mithilfe einer Lasur künstlich gealtert, um eine einheitliche Farbigkeit über viele Jahre hinweg zu erhalten.
Doppelt hält besser
Die Tragkonstruktion, aber auch die Trennwände bestehen nicht aus monolithischen Elementen, sondern weisen mittige Fugen auf. Fertigungstechnisch war dies erforderlich, da die Leimholzbinder nicht mit 50/50-Querschnitten lieferbar waren. Ausgeführt wurden sie daher in halber Dimension. Mit eingeschlagenen Stahldübeln wurden sei dann auf der Baustelle zu einer Einheit verbunden. Die Trennwände der Wohnungseinheiten erhielten den doppelten Aufbau hingegen aus Schallschutzgründen. Hier wurde mittig noch ein Akustikflies zur Entkopplung ergänzt.
Decken mit „Scheinauflager"
Bei den Geschossdecken wurde eine Verbundkonstruktion aus Stahlträgern verwendet, die im Werk zu¬nächst auf 7 cm dicke Betonfertigteilplatten gestellt wurde, um dann mit Anhydridestrich vergossen zu werden. Die jeweils über 9 m spannenden und 2,50 m breiten Elemente wurden immer mit zwei durchlaufenden Stahlträgern im Werk vorproduziert und als Trockenbauelement in die Holzkonstruktion einhängt. Dabei scheinen die Deckenelemente in einer beachtlichen Leimholzbinder- Ausklinkung zu ruhen. Tatsächlich wurden an den Kopfenden der Stahlträger handförmige Auflager angeflanscht, die von oben auf dem Holztragwerk aufliegen. Die vermutete Lastabtragung würde im Brandfall zu schnell abbrennen, die Decken somit kollabieren und der geforderte Feuerwiderstand von 120 Minuten wäre nicht zu erreichen gewesen.
Die Doppel- T- Träger besitzen nicht nur aus statischen Gründen eine Bauhöhe von 40 cm, sondern auch deshalb, weil sie wie eine Hohlraumdecke wirken. Die gesamte technische Gebäudeausrüstung (TGA) wurde hierin verlegt. Damit Kanal-, Leitungs- und Kabeltrassen nicht nur in Trägerrichtung, sondern auch quer zu dieser geführt werden konnten, sind diese mit entsprechenden Durchbrüchen ausgestattet. Abgedeckt wurde dieser Hohlraum mit reversiblen Bodenelementen, welche lediglich von Träger zu Träger spannen, also immer nur 1,25 m weit.
Wohnungen mit offenen Grundrissen
Jede Geschossebene weist acht stützenfreie Wohnmodule auf, deren Grundrisse - auch die Position der jeweiligen Nassräume -frei festgelegt werden können. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, die als Ei¬gentumswohnung vermarkteten Flächen auch immer wieder neu miteinander zu kombinieren. Tatsächlich wurde das Maximum von acht Kleinwohnungen, die zum Wasser hin 61 m² und landseitig 42 m² Wohnfläche aufweisen würden, auf keinem Geschoss realisiert. Viele der Erstkäufer addierten mehrere Module zu einer Einheit und entwickelten dafür individuelle Grundrisse. Mithilfe interner Deckendurchbrüche entstanden sogar in zwei Fällen doppelgeschossige Wohnungen. Im obersten Geschoss bestand zudem die Möglichkeit, die Apartments gegen Aufpreis mit Oberlichtern und/oder mit offenen Kaminen auszustatten. Die Loggien können mit Glasflächen zu einem unbeheizten Wintergarten verschlossen werden. Diese in Schienen auf der Brüstung geführten ESG- Scheiben können ähnlich wie bei einem Ladenlokal ganz an den Rand geschoben werden. Das Detail mindert den Schall um 20 dB. Lärmschutz war hier vorgeschrieben, da sich nebenan ein Sägewerk befindet.
Alternative Strom- und Wasserversorgung
Auf dem rund 600 m² großen Dach befinden sich eine Photovoltaikanlage, die obligate Aufzugüberfahrt von etwa einer halben Geschosshöhe und ein Dachausstieg. Bewusst haben die Planer in dem Fall auf Solarthermie verzichtet. Für beide Energiequellen - also PV und Solarthermie - wäre die Nutzfläche zu klein und damit zu ineffektiv gewesen.
Die Toiletten werden mit Brauchwasser gespeist, das dem benachbarten Kanal entnommen wird. Beheizt wird das gesamte Gebäude durch zwei Holzpelletöfen, die im Kaskadenbetrieb hintereinander geschaltet sind. Die Heizkessel beheizen durchgehend einen Hauptwärmekreislauf, von dem die einzelnen Wohnungseinheiten Energie mittels Wärmetauscher abnehmen und gleichzeitig dokumentieren. Die Holzpellets werden in einem Brennstofflager neben den Kesseln aufbewahrt und durch eine unterirdische Druckleitung, die bis an die gut 50 m entfernte Hauptstraße reicht, beschickt. Zur Anlieferung muss das Gebäude also nicht direkt angefahren werden.
In den Niederlanden wird die Nachhaltigkeit eines Gebäudes nicht durch Zertifikate wie LEED oder DGNB zertifiziert, sondern nach GPR bewertet. Die „Gemeente Praktijk Richtlijnen" wurden zunächst kommunal von der Stadt Tilbourg aufgestellt und später auf die gesamten Niederlande übertragen. Patch 22 erhielt auf der bis zehn reichenden GPR- Skala einen hervorragenden Wert von 8,9. In diese Bewertung geht der EPC, der „Energie Prestatie Coefficient" (Energie- Leistungskoeffizient), mit ein. Schon in der Planungsphase 2009 ermittelte Tom Frantzen diesen mit 0,2 - wobei lediglich ein Wert von 0,6 gefordert war. Zwischenzeitlich wurde der EPC- Wert auf 0,4 gesenkt. Daraus folgt, dass sein Gebäude heute immer noch doppelt so gut ist wie die geltenden Richtlinien für Neubauten! Dies kann man zu Recht als weitsichtige Nachhaltigkeit bezeichnen.
Robert Mehl, Aachen