Projektart:
Anfrage:
Objekt:
Typ:
Hochschulbibliothek
Ort:
Marburg [Satellit]
Staat:
Deutschland
Architekt:
sinning architekten 🔗, Darmstadt
Materialien:
Publiziert:
metallbau 2/2019
Seiten:
10 - 15
Inhalt:
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Neue Universitätsbibliothek Marburg

Komplett verschweißte Fassade

Zur neuen Marburger Universitätsbibliothek führt eine verglaste Passage, deren Dachfläche nach oben gekrümmt ist. Die Tragkonstruktion hat das Fassadenbauunternehmen Roschmann als massiv verschweißten Stahlbau erstellt. Die Scheiben wurden im Structural- Glazing- Verfahren mit dem geschweißten Stahlgitternetz verbunden.
Im Sommer 2018 ist die Marburger Universitätsbibliothek fertiggestellt worden. Das Darmstädter Büro sinning architekten hat einen Baukörper entwickelt, der sich trotz eines beachtlichen Raumprogramms nicht als Solitär vom baulichen Umfeld abhebt, sondern sich stimmig in dieses integriert und trotzdem als besonderer Ort erfahrbar bleibt.
Der Bücherhort liegt am Pilgrimsteig, einer Straße, die am steilen Fuß der mittelalterlichen Oberstadt verläuft. Von hier fällt das Terrain nochmals nach Osten um mehr als eine Geschosshöhe ab. Der Neubau liegt längs dieser Falllinie, weshalb sein Westflügel viergeschossig ist und sein Ostflügel ein Geschoss weniger aufweist. Zwischen beiden Bauteilen liegt eine als „Atrium“ bezeichnete gläserne Passage − der Zugang zum Gebäude. Dieser ist zugleich eine halböffentliche Durchwegung des Neubaus, die eine fußläufige Verbindung zwischen der Stadtkirche St. Elisabeth und dem botanischen Garten herstellt. Die mit Faserzementtafeln verkleidete Fassade adaptiert in ihrer Farbigkeit die Umgebung. Die außen angebrachten Elemente sind in drei verschiedenen beigefarbenen Tönen angelegt und beziehen sich auf die Putzflächen der umgebenden Barockbauten; das Atrium ist hingegen in drei verschiedenen Rottönen gehalten, die einen Verweis zum Sandstein herstellen. Aus diesem bestehen sowohl die nördlich gelegene gotische Kathedrale wie auch der klassizistische Schäferbau auf der Südseite der Bibliothek.
Eine Translationsfassade
Als eine „Translationsfassade“ hat das mit der Tragwerksplanung beauftragte Ingenieurbüro LAP – Leonhardt, Andrä und Partner – sein Berechnungsprinzip bezeichnet. Dass bei dem nach oben gekrümmten Dach gekrümmte Glasflächen unbedingt zu vermeiden waren, forderte eine konstruktive Sonderlösung.
Opportun war eine Dachstruktur, die zwar aus gekrümmten Stahlträgern und ebensolchen Bindern besteht, diese mussten aber hinreichende rechteckige Öffnungsflächen umschließen, die mit flachen Glasscheiben verschlossen werden konnten. Leichte Parallelogramme waren noch akzeptabel, dreieckige Öffnungen sollten jedoch weitgehend vermieden werden. Oberste Priorität hatte der Einsatz planer Scheiben, da die gewölbte Ausführung den Kostenrahmen gesprengt hätte.
Das Konzept der Tragwerksplaner von LAP fußt also auf einer mittigen Ideallinie entlang der Passagenachse. Diese ist entsprechend ihrer Lage im dreidimensional geformten Dach verformt. Die Linie duplizierten sie und verschoben sie parallel zur Seite. Die Duplikate wurden zwar entsprechend dem Verlauf der Dachflächenhüllkurve angepasst, diese Verformung geschah jedoch immer nur an den Knotenpunkten des Gitters. So wurde letztlich mit einem Polygon eine Kurve nachvollzogen, beziehungsweise eine zweifach gekrümmte Fläche wurde so in Parallelogramme zerlegt, dass die Teilflächen eben blieben. In der Ausführung sind die Scheiben durchweg rechtwinklig, da die Abweichung der Öffnungswinkel der Stahlgefache so gering war, dass sie meist noch innerhalb der Bautoleranzen lag und die sich ergebenden Passungenauigkeiten in den Glasauflagern aufgefangen wurden.
Structural Glazing
Anders als bei einer klassischen Pfosten/Riegel- Konstruktion einer Fassade wurden die Scheiben nicht zwischen das stählerne Gitter aus Stahlträgern und -bindern gehängt, sondern auf dieses aufgelegt und dauerhaft in ein Dichtungsbett einsilikoniert. Die Montage erfolgte im System Roschmann. Die Dichtungsebene besteht aus einem 20 mm starken Dichtungsprofil. Auf dem Dichtungsprofil wurden die maßgefertigten Scheiben angesetzt und mit Sogtellern an der Stahlkonstruktion verschraubt. Die Glasmasse wurden theoretisch nach dem 3D- Modell ermittelt.
Zwischen den Scheiben sind rund 2 cm breite Dichtungsfugen/Silikonfugen angeordnet. Auch wenn Glas als spröde gilt, sind Scheiben bis zu einem gewissen Grad flexibel. Insofern nahmen die ebenen Gläser problemlos die leicht gekrümmte Form der Tragstruktur an. Sie mussten nur in vereinzelten, sehr stark verkrümmten Gefachen mit den Klemmtellern in die Dichtung hineingezogen werden. Zudem wurden die Scheiben dauerhaft an ihren Rändern einsilikoniert. Da Silikon – in diesem Falle schwarzes Silikon – nur bis zu einer gewissen Tiefe aushärtet, wurde zuvor in die etwa ca. 42 mm tiefe Fuge ein Schlauchprofil als Unterfütterung und zur Be- und Entlüftung gelegt.
Die Fassadenkonstruktion weist in diesem Falzraum eine zweite Drainageebene auf: Kondensat kann in der Drainage sauber und kontrolliert abgeführt werden. Schon jetzt weiß Michael Skopp, technischer Leiter bei Roschmann, um die einwandfreie Funktion dieser zweiten Dichtebene, da die finale Silikonierung erst ganz am Ende erfolgte, das Atrium aber während der gesamten Bauzeit schon regendicht war.
Geschweißte Stahlkonstruktion
Die gesamte Unterkonstruktion des Dachs wurde im Werk in Gersthofen vorgefertigt, nach Marburg transportiert und dort zusammengeschweißt. Anders als es von den LAP- Ingenieuren zunächst vorgesehen war, besteht das Passagendach nicht aus einzelnen Glasflächenelementen, die zusammengefügt wurden, sondern aus durchgehenden Stahlträgern. Das Gitternetz, auf dem die Dachverglasung aufliegt, wurde in langgestreckten „Sprossenleitern“ im Gersthofener Werk vorproduziert und auf der Marburger Baustelle zusammengeschweißt. Michael Skopp weist darauf hin, dass es sich bei der fertiggestellten Dachkonstruktion um eine einzige, zusammengeschweißte Einheit handelt. Es gibt zwar Los- sowie Bewegungspunkte und Anschlussfugen zu den benachbarten Bauteilen, aber alle vertikalen und horizontalen Elemente hängen zusammen, was auch von Vorteil für die Längsaussteifung ist. Eine schadhafte, thermische Ausdehnung ist nicht zu befürchten, da das Atrium ein einziger unbeheizter Raum ist. Durch einen natürlichen Luftwechsel weist es ein relativ ausgeglichenes Raumklima auf.
Die äußere Traufe ist ein Kastenträger, der auf einer Flucht von 22 m hohen Rundstützen ruht, die im knappen Meterabstand hinter der Glasfassade platziert sind. Sein gebäudeseitiges Pendant liegt auf der Rohdecke des Nachbarflügels auf. Es wurde auf Lagern ausgerichtet, die in alle drei Achsen justierbar waren. Auch zwischen den Fundamenten und den langen Rundstützen sitzen justierbare Auflager.
Die seitlich der Dachfläche verlaufenden Kastenträger bestehen aus u-förmig angeordneten, 30 mm starken Blechen. In den Obergurt eingelassen ist eine ebenfalls u-förmige Wasserrinne, mit der die Dachflächen entwässert werden, in die aber auch – wie vorhin beschrieben – Wasser bzw. Kondensat aus den Falzräumen hin drainiert wird.
Infolge der umfassenden Schweißarbeiten galt eine besondere Aufmerksamkeit der Prüfung von Schweißschrumpfungen und der Kompensation derselben. Der Schwund und der Verzug konnten vor allem durch erfahrene Monteure gering gehalten werden, die mit „der Flamme umzugehen wussten“. In Hochzeiten, insbesondere in der Phase während des Aufstellens des Stahls, stellte der Fassadenbauer ca. 15 Leute gleichzeitig für die Arbeiten auf der Baustelle ab.
Eigene Knotenpunkte
Die mit der Gesamtstatik der Marburger Universitätsbibliothek betrauten Tragwerksplaner von LAP sahen zunächst verschraubbare, größere Knotenpunkte zwischen den einzelnen Stahlgefachen vor, doch die Planer von Roschmann konnten mit einem eigenen Knotenkonzept überzeugen. Hierzu wurde ein 1:1 Musterknoten angefertigt, rund 30 kg schwer, den Michael Skopp eigenhändig in die Baubude schleppte, um ihn den Architekten zu präsentieren. Mit dem Muster demonstrierte er nicht nur den schlankeren Knoten, sondern führte auch die Dachhautmontage nach dem Roschmann- System vor.
Natürliche Thermik
Die Dachhaut hat keine Rauch- und Wärmeabzugsanlagen (RWA), sondern es sind natürliche Rauchabzugsgeräte (NRWG) installiert. Zur natürlichen Klimatisierung des Atriums setzt man auf den Kamineffekt: Es gibt bodennahe Lüftungsöffnungen, Luftdurchlässe im Traufbereich und eben die erwähnten NRWG. Der Effekt ist beachtlich: Selbst im Hochsommer ist das Klima im Atrium auffallend angenehm und sehr zugfrei.
Robert Mehl, Aachen