Projektart:
Anfrage:
Objekt:
Typ:
Stadtquartier
Ort:
Berlin [Satellit]
Staat:
Deutschland
Architekt:
Herzog & De Meuron 🔗, Basel
Materialien:
Altbausanierung / Stadtverdichtung
Publiziert:
baublatt 19/2021
Seiten:
36 - 40
Inhalt:
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Pilotprojekt "Tacheles", Berlin

Allergikerfreundliches Bauen

Derzeit wird in Berlin das frühere Kunsthaus Tacheles und die umgebende Brache zu einem hochwertigen innerstädtisches mischgenutztes Quartier mit einer neuen, öffentlichen Geschäftsstraße nach einem Masterplan von Herzog & De Meuron aus Basel entwickelt. Es ist zugleich das Pilotprojekt der Afba, einer Gesellschaft, die allergikerfreundliches Bauen ermöglicht.
Nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung avanciert Berlin – insbesondere der marode, aber kostengünstige Ostteil der Stadt – zum ultimativen Zentrum der Jugend dieser Welt. Techno wurde in dieser Stadt geboren und schnell zum Sound seiner Subkultur. Getanzt wurde in den kapitalistischen Ruinen, die den Sozialismus überdauert hatten. Kultstätten wie der Tresor, das Berghain oder eben das Tacheles entstanden. Letzteres war einmal der Zugang von der Oranienburger Straße zu den 1909 eröffneten Friedrichstadt- Passagen. Diese stellten einen ganz frühen Vertreter einer Shopping Mall dar, die nach dem sogenannten Shop-in- Shop- Prinzip arbeitete: Es gab viele kleine Läden, die von "Detaillisten" geführt wurden. Diese waren Einzelhändler, die aber an einen zentralen Einkauf, eine zentrale Logistik und an ein zentrales Kassensystem angeschlossen waren. Die Friedrichstadt- Passagen, insbesondere deren große zentrale Kuppel, wurden im Zweiten Weltkrieg stark zerstört und der Rest in DDR- Zeiten weitgehend abgerissen. Übrig blieb allein der Torbau. Dieser Ort veränderte sich um die Jahrtausendwende zu seinem Vorteil, private Initiativen sanierten partiell den maroden Altbau. Allmählich formte sich daraus das Kunsthaus Tacheles, bei dem sich Kunstausstellungen, Happenings und musikalische Events ergänzten. Die Eigentümerverhältnisse wechselten und waren mitunter dubios. Es gab zahlreiche Prozesse, eine Hausbesetzung, wiederholte Duldungen und am Ende eine polizeiliche Räumung.
Neu zu alt
2014 kaufte die heutige, britische Fondgesellschaft Aermont Capital das Tacheles- Grundstück und beauftragte pwr development mit der Projektentwicklung. Das Kunsthaus Tacheles war damals schon geräumt. Es gab einen Bebauungsplan von Ende der 1990er Jahre, auf dessen Basis die Vorbesitzer ein Nutzungskonzept entwickelt hatten, das vor allem einen großvolumigen Baukörper vorsah. die neuen Eigentümer bewerteten das Konzept als nicht Lage-adäquat und stadträumlich als unbefriedigend. Er beauftragte das bekannte Basler Architekturbüro Herzog & De Meuron (HDM), ein neues städtebauliches Konzept zu entwickeln, das auf Basis des bestehenden Bebauungsplanes eine neue Baukörperkonfiguration vorsieht. Das Ergebnis dieser Überlegungen ergab ein städtebauliches Modell, das aktuell im ersten Obergeschoss des früheren Kunsthaus Tacheles zu finden ist. Denn während derzeit auf den ehemaligen Brachflächen um das einstige Kunsthaus zehn Neubauten in den Himmel wachsen (sieben Wohngebäude und drei Bürohäuser), werden die alten Räumlichkeiten mustergültig konserviert und restauriert. Man kann sich ein stilles Lächeln nicht versagen, nach Jahrzehnten in dem vertrauten, mit Graffiti zugesprühten Treppenhaus zu stehen, aber diesmal alles geruchsfrei und gewissenhaft gesäubert vorzufinden. Aus der Entstehungszeit dieser aufgesprühten Arbeiten heraus nunmehr deren Statuswandel zu erkennen, ist ein fast unvorstellbarer Gedanke: War dieser Ort einmal ein Hort der Spontikultur, die sich als Gegenentwurf zum Kapitalismus verstand, wurde diese nunmehr als wertvolle Kunst von eben jenem vereinnahmt.
An dem Modell legt Sebastian Klatt, Geschäftsführer von pwr development die wesentlichen Elemente der Rückbesinnung auf die historische Bebauung dar: Es gab eine Passage von der Friedrichstraße zur Oranienburger Straße, das Tacheles war immer Teil davon. HDM haben nun diesen "Footprint", den Grundriss des einstigen Einkaufspassage, wieder aufgenommen und ein Büro und Geschäftszentrum geplant, das die alte Substanz einbindet. Der Altbau erhält damit seine Eingangsfunktion zurück.
Daneben werden zwei neue Stadträume geschaffen: Der Aaron- Bernstein- Platz, welcher sich von der Oranienburger Straße in das neue Quartier hineinzieht, sowie der deutlich kleinere Johannis- Platz, der einmal das südliche Quartier- Entrée bilden wird. Während entlang der künftigen Durchwegung die Bürogebäude angeordnet sind, wurden um die beiden Plätze die Wohngebäude gruppiert. Gleichwohl es sich um ein Privatgrundstück handelt, sind alle Plätze über Durchgänge miteinander verbunden, die als Passage für jedermann durchgehend offenstehen: Das Areal will keine "Gated Community" sein. Die neue Passage ist nicht als Shopping Mall konzipiert, sondern als öffentlicher Weg gedacht zwischen Friedrichstraße und Oranienburger Straße, gesäumt von zahlreichen Einzelhandelsgeschäften. Zu den beiden stark befahrenen Hauptstraßen sind die Bauten aus Schallschutzgründen etwas höher angelegt als die Nachbarbebauung, sie treppen sich jedoch innerhalb des Quartiers zur erheblich ruhigeren Johannisstraße merklich ab und bleiben dort sogar unter der zulässigen Bauhöhe des Bebauungsplanes. Die Bauten werden in klassischer Weise errichtet. Alle Gewerbebauten und die meisten Wohnhäuser sind eine Stahlbetonskelettkonstruktion, aus akustischen Gründen wurden die Wohnungstrennwände jedoch aus Kalksandstein erstellt. Der eigentliche Innenausbau ist ein klassischer Trockenbau.
HDM verantworten neben dem Masterplan auch die Realisierung eines Großteils der Einzelgebäude. Zwei Wohnhäuser werden jedoch von Brandlhuber Architekten in Kooperation mit Muc Petzet realisiert, und Grüntuch- Ernst Architekten zeichnen verantwortlich für ein Bürohaus und zwei weitere Wohnauten an der Oranienburger Straße.
Durch die Einbindung zusätzlicher Planungsbüros wollte man die architektonische Vielfalt stärken, mit der Belassung der architektonischen Oberaufsicht bei HDM jedoch gleichzeitig eine formale Klammer schaffen, die das Quartier als Einheit ausweist. Für den Betrachter wird sich das vernehmlich an dem Sichtmauerwerk ,manifestieren, dass HDM weitgehend als Fassadenmaterial festgelegt haben. Für die Planung der Außenanlagen, der übergeordneten Leitsysteme und für die Beleuchtung haben sich HDM der Unterstützung diverser Fachplaner bedient, wie dem Liechtensteiner Landschaftsplaner G. Vogt oder dem Innsbrucker Lichtplaner Bartenbach.
Insgesamt werden 300 Wohnungen in verschiedenen Größenordnungen entstehen. Im Bau von Brandlhuber und Petzet werden vor allem Mikroapartements mit einer Größe ab 26 Quadratmeter entstehen. Dagegen stehen bis zu 300 Quadratmeter große Einheiten, die sich etwa im "ORO", dem von HDM entworfenen Wohngebäude finden. Aktuell stehen die Preise der Mikroapartements noch nicht fest, sehr wahrscheinlich werden sie als Gesamtpaket verkauft und dann vermietet. Für die restlichen Immobilien nennt Klatt einen durchschnittlichen Quadratmeterpreis von 15.000 Euro/m².
Schlüsselfertiger Ausbau der Wohnungen
Im Gegensatz zum angelsächsischen Bereich oder zu Fernost ist es in Deutschland nicht üblich, die Wohnungen in einem veredelten Rohbauzustand zu verkaufen und den Ausbau dem Käufer zu überlassen. Stattdessen werden wie bei einem Neuwagen dem Käufer Konfigurationsmöglichkeiten angeboten, um sich daraus die Wohnungssaustattung zusammenzustellen. Alle Wohnungen weisen Holzfußböden auf, gewählt werden kann die Baumart sowie zwischen Dielen und Parkett. In den Bädern können Fliesenformate bestimmt und Armaturen aus zwei Serien gewählt werden. Natürlich würde auch alles andere auf Kundenwunsch eingebaut, was aber eine Sonderausstattung ist.
Alle Decken weisen ein integriertes Heizungs- und Kühlsystem auf, das von einer Fußbodenheizung unterstützt wird. Es handelt sich nicht um eine Klimaanlage als solche, da dies nur eine Temperatursenkung von 7 - 8 C° bewirkt. Grundsätzlich können die Fenster aller Wohnungen geöffnet werden. Da jedoch der Verkehrslärm gerade an den beiden Hauptstraßen nicht zu vernachlässigen ist, besitzen alle Einheiten darüber hinaus mechanische Lüftungen. Diese ergänzen das Deckenheizungssystem und kühlen bzw. wärmen die Zuluft geringfügig vor. Natürlich sind diese Lüftungsanlagen mit Pollenfiltern ausgestattet, deren Wartung jedoch nicht dem einzelnen Bewohner überlassen ist, sondern von zentraler Stelle erfolgt. Denn gleichwohl es sich um ein verdichtetes Cluster aus Gewerbeflächen und Eigentumswohnungen handelt, existiert weiterhin ein zentrales Facility- Management, das die Grundanforderungen aller Wohnungen sicherstellt.
Allergikerfreundliches Bauen
Allergiefreundlich gebaut werden "Am Tacheles" nicht nur einzelne Gebäudeteile, sondern das gesamte Quartier. Untersucht und entsprechend zertifiziert werden neben den Baumaterialien der Häuser und deren Haustechnik und die Bepflanzungen der Außenräume.
Entwickelt wurde dies von der Allergy Friendly Buildings Alliance (AFBA), die durch die Nachhaltigkeits- Berater von Buro Happold unterstützt wird. Dahinter steht die Europäische Stiftung für Allergieforschung (ECARF), die von Prof. Dr. med. Dr. h. c. Torsten Zuberbier gegründet wurde. Der leitende Allergologe des benachbarten Berliner Charité- Krankenhauses betreut aus medizinischer Sicht dieses Pilotprojekt. Die Aufgabe der AFBA besteht darin, die medizinischen Erkenntnisse nun auf Baustoffe und auf das Facility Management zu übertragen.
Vor einigen Jahren hatte die ECARF damit begonnen, Neuwagen von Mercedes Benz auf Allergiefreundlichkeit zu untersuchen und zu zertifizieren. Dieses wurde dann im Folgenden auch auf Kleinstädte übertragen. Der Allgäuer Kurort Bad Hindelang war einer der ersten, der dieses Prädikat erhielt. Darüber hinaus zertifiziert die ECARF seit einigen Jahren Hotels, primär fokussiert auf ein allergikergerechtes Speiseangebot und eine Vorsorge vor Tierhaarallergien. Obwohl mittlerweile zahlreiche Einzelbauten durch die Stiftung zertifiziert wurden, stellt das Tacheles- Quartier nunmehr das erste städtebauliche Großprojekt dar, das einer solchen Zertifizierung unterzogen wird. Sebastian Klatt kann noch nicht beurteilen, ob die zertifizierte Allergikerfreundlichkeit die Nachfrage steigert, zumal das Tacheles das Vorzertifikat erst im April 2021 erhalten hat. Grundsätzlich stellt er aber eine positive Resonanz darauf fest.
Sparringspartner Nachhaltigkeit
Das international operierende Team von Buro Happpold ist beim Tacheles Projekt in doppelter Funktion tätig: Einmal betreute es als Ingenieurbüro die Statik für Teile des Quartiers und fungierte zudem als Berater der Afba bei Anlage und Konzeption des Zertifizierungssystems. Das Büro half, die medizinischen Kriterien und Vorgaben der ECARF in adäquate Baustellenpraxis umzusetzen. Von entscheidender Bedeutung war dabei der Einsatz von Thomas Kraubitz, einem Direktor des Buro Happold. Seinerzeit war er an der Entwicklung des Zertifizierungssystems der DGNB maßgeblich beteiligt und gab der AFBA wertvolle Hinweise bei der Entwicklung ihres allergikerfreundlichen Zertifizierungssystems.
Allergiefrei unmöglich, allergiefreundlich machbar
Angela Balatoni, Geschäftsführerin der Afba, verwendet bewusst nicht das Attribut "allergiefrei" und beschränkt sich auf "allergiefreundlich", da sich niemand anmaßen könne, wirklich so zu bauen. Ihre Arbeit umschreibt sie als die letzen Millimeter eines Bauprozesses und spielt damit auf denkbare Kontaktallergien an. Allerdings untersucht die Afba aber genauso durch Atemwege ausgelöste Allergien. Letztlich dünsten alle Baumaterialien in der ein oder anderen Form aus, was aber nicht schlimm sein muss. Oft ist ein Material nach seiner Aushärtung neutral. Das gilt für die meisten mineralischen Baustoffe, wie etwa Beton. Bei Holz besteht hingegen die Gefahr einer allergischen Reaktion auf bestimmte Lacke, Öle und Lasuren. Entscheidend ist die Qualitätssicherung; nicht allein die Ausschreibung ist wichtig, auch die Ausführung muss überwacht werden. Vor diesem Hintergrund kann auch das Arbeiten Tacheles- Quartier durchaus als allergiefreundlich bezeichnet werden.
Ökologisch heißt nicht allergikerfreundlich
Gleichwohl das Tacheles- Quartier parallel zu dem Zertifikat für Allergiefreundlichkeit auch eine LEED- Zertifizierung in Platin für seine nachhaltige Realisierung anstrebt, wird hierbei weniger Wert auf Ökologie als auf den medizinischen Aspekt gelegt. Die Allergikerfreundlichkeit versteht sich als Ergänzung zum Streben nach Nachhaltigkeit. Es hat sich gezeigt, dass ein Großteil der handelsüblichen Baustoffe unverdächtig und auch unkritisch sind. So kamen bei den Dämmstoffen etwa eine ganz normale Mineralwollprodukte zur Anwendung. Ökologisch produzierte Naturprodukte oder eine teure Vakuumdämmung kamen nicht in Betracht.
Die Quartierfertigstellung wird für 2023 angestrebt, aktuell arbeitet die Afba an einer Implementierung der Allergiefreundlichkeit in den Ausschreibungen. Da die Afba erst im Nachhinein bei dem Projekt dazukam, musste das Thema nachträglich in den Rohbaukatalog eingearbeitet werden. Der bereits beauftragte Generalunternehmer, der Essener Konzern Hochtief zeigte sich dafür aber sehr aufgeschlossen und will das Thema künftig generell bei seinen Projekten verfolgen. Mit dem Wohnungsausbau wurde die mittelständische hagenauer GmbH aus Immenstadt beauftragt, für sie wird Allergikerfreundlichkeit ein zentrales Thema ihrer Arbeiten.
Birken unerwünscht
Tatsächlich konnte die Afba bei den Planungen schon einmal Schlimmeres verhindern: So war ursprünglich auf dem Grundstück ein Birkenhain vorgesehen – letztlich also der Baum, dessen Blüte ein Synonym für Heuschnupfen ist, denn Birken werden durch Wind bestäubt und produzieren viel feinen Blütenstaub. Eine Anpflanzung der Birken ist jedoch inzwischen nicht mehr vorgesehen. Sie werden durch den allergiefreundlichen Feldahorn ersetzt, dessen Blüten überwiegend von Insekten bestäubt werden.
Pionierarbeit
Klatt und Balatoni beurteilen ihr allergikerfreundliches Engagement als Pionierarbeit, bei der sie aktuell nicht bewerten können, ob sich dieses finanziell auszahlt. Sie denken, dass man die künftigen Nutzer dafür sensibilisieren und ihnen erklären muss, was für eine zusätzliche Lebensqualität diese für sich selber schaffen. Balatoni weist darauf hin, dass aktuell überhaupt nur 10% der Allergiker richtig behandelt werden, denn viele davon wissen oft nicht, wie sie mit ihrer Krankheit umgehen müssen, und dass auch ihre Wohnung Einfluss darauf haben kann. Mit Allergien verbindet man immer noch mehr Blütenpollen als Bauprodukte. Üblicherweise sucht man seinen Teppich oder die Wandfarbe nicht nach seiner Allergikerfreundlichkeit aus. Insofern will man hier auch Aufklärungsarbeit leisten. Allergien sind durchaus ein Thema von allgemeinem Interesse, da traurigerweise mittlerweile etwa 40% der Bevölkerung darunter leiden.
Robert Mehl, Aachen