Projektart:
Anfrage:
Objekt:
Philosophikum II
Typ:
Seminargebäude
Ort:
Gießen [Satellit]
Staat:
Deutschland
Architekt:
Materialien:
Publiziert:
Beton Bauteile 2018-1
Seiten:
26 - 33
Inhalt:
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Seminargebäude, Philosophikum Gießen

Betonen der Betonfassade

In den nächsten Jahren wird der bestehende Campus der Gießener Justus- Liebig- Universität städtebaulich neu strukturiert. Geschaffen wird dabei eine „Neue Mitte“ mit Bibliothek und Mensa. Prägender Fassadenbaustoff soll Architekturbeton werden. Der erste Bau, ein Seminargebäude ist nun fertiggestellt.
„Heureka - ich habe es gefunden!“, soll einst der griechische Mathematiker Archimedes ausgerufen haben. HEUREKA wurde auch 2007 von der hessischen Landesregierung als ein Hochschulinvestitionsprogramm ausgerufen. Ursprünglich bis 2016 befristet, sollten 1 Mrd. Euro in den Ausbau der hessischen Hochschullandschaft verwandt werden, unlängst wurde die Förderung noch einmal bis 2025 verlängert. Die Gießener Justus- Liebig- Universität ist eine von fünf Universitäten des Bundeslandes, die davon profitieren. Ziel ist es dabei, die Attraktivität dieser Universitäten gleichermaßen für Studierende wie für Wissenschaftler zu steigern und so langfristig die jeweiligen Wissenschaftsstandorte zu sichern.
Neuordnung des Campus
In Gießen betreffen die Maßnahmen vor allem die beiden Außenbereiche im Stadtteil Licher. In den 1960er und 70er Jahren entstanden hier mit dem Philosophikum I und II zwei rd. 300 m auseinanderliegende Teilbereiche, die räumlich wie architektonisch in keiner Beziehung zueinander standen. Beide Einheiten sind stark sanierungsbedürftig; im Falle des jüngeren Philosophikums II kamen Gutachter zudem zu dem Schluss, dass die bestehende Gebäudesubstanz nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern auch aus funktionaler Sicht nicht erhaltenswert sei. Demgegenüber wird das ältere Philosophikum I, das mit seiner kleinteiligen Architektur Anklänge an eine Siedlung der Frühen Moderne aufweist, erhalten und mit dem neuen Campuskonzept weiterentwickelt.
Der neue Masterplan stammt von dem Frankfurter Büro Ferdinand Heide und knüpft an die Orthogonalität und die Raumfluchten dieser gut 50 Jahre alten kubischen Baukörper an. Das geplante städtebauliche Konzept führt dieses Raumraster nun nach Nordwesten fort und schafft künftig im Bereich der heutigen Rathenaustraße und einer daran anschließenden großen Wiesenfläche den so genannten „Campusplatz“, um den herum die neue Hochschulbibliothek und die neue Mensa gruppiert werden. Flankiert werden diese Bauten von einem größeren und - etwas zurückgesetzt - einem kleineren Seminargebäude.
Letzteres ist nun der erste fertiggestellte Bau des neuen Campus- Areals; er wurde im vergangenen Jahr seiner Funktion übergeben. Aktuell steht das Gebäude etwas zusammenhanglos und unmotiviert auf einer grünen Wiese, da sich seine Gebäudekanten schon auf die zukünftigen Raumkanten beziehen und alle derzeitig den Bau umgebenden Straßen und Bauten abgängig sind; es besitzt freilich provisorische Zuwegungen.
Wesen des Seminargebäudes
Das neue dreigeschossige Seminargebäude ist geprägt von einer großen Glasfront auf seiner südöstlichen Fassade, die erst unterhalb des obersten Geschosses endet. Sie belichtet das großzügige Foyer mit einer einläufigen Treppe, die alle Ebenen erschließt.
Der Neubau weist zehn Seminarräume auf, die jeweils rd. 120 m² groß sind. Während das 1. und das 2. OG annähernd identische Grundrisse aufweisen und jeweils drei Unterrichtseinheiten besitzen, finden sich im Erdgeschoss nur zwei Einheiten und daneben eine kompakte Kaffeestation; an diese schließt sich ein Lagerbereich an. Bedingt durch eine größere Bauhöhe besitzen die Räume im EG einen saalartigen Charakter, obwohl sie flächenmäßig annähernd den darüber angeordneten Räumen entsprechen. Da sie damit für Vorlesungen besser geeignet sind, erhielten sie eine Tablarbestuhlung, also nicht fixierte Stühle mit integrierten Klapptischchen. Die Seminarräume aller Obergeschosse wurden mit großen Tischen und regulären Stühle versehen, die unterrichtsbezogen frei arrangiert werden können. Obwohl das oberste, dritte OG weitgehend als Techniketage und von der Verwaltung genutzt wird, finden sich hier noch zwei weitere Seminarräume identischen Zuschnitts.
Konstruktion
Erstellt wurde das 36 m lange, 19 m breite und gut 17 m hohe Gebäude als eine Pfosten-/Riegelkonstruktion. Seine Rohbauaußenwände wurden bis auf den geschlossenen Bereich oberhalb der Glasfront in Ortbeton erstellt. An besagter Stelle wich man aus Gewichtsgründen auf Leichtbetonmauerwerk aus. Auf die Rohbaukonstruktion wurde eine 22 cm starke mineralische Dämmung aufgebracht, vor die dann mit einem Abstand von 4 cm die 12 cm dicken Architekturbetonelemente gehängt wurden. Gehalten werden sie von Traversen, die an den Rohbaudecken montiert sind. Insbesondere oberhalb der großen Foyerglasfront wurden die Elemente von der Attika abgehängt und die anfallenden Lasten in Rundstützen des Foyers abgeführt.
Architekturbetonfassade
Die geschlossenen Fassadenbereiche sind geprägt von horizontalen Doppellinien, welche die Geschossdecken adaptieren und diese nach außen hin ablesbar machen. Der schmale Bereich unmittelbar unterhalb des Dachabschlusses markiert die Brüstungshöhe der Attika. Natürlich teilten die Architekten mit diesem formalen Kunstgriff auch die Fassade in Bauteilgrößen auf, die logistisch problemlos transportabel waren. Die größten hier verbauten Betonfertigteile messen 6,41 m x 3,18 m.
Auffällig ist auch der Texturwechsel im Bereich der Fensteröffnungen, besonders bemerkenswert an der nordwestlichen Lochfassade. Die Architekten der pbr AG entschieden sich, die geschlossenen Großflächen der Außenfassade zu säuern, diese chemisch aufzurauen, wohingegen sie die Fensterumrahmungen, also deren Laibungen, Brüstungen und Stürze durch das produzierende Betonfertigteilwerk Fuchs aus Gladbeck besonders glatt ausführen ließen. So wurde gerade bei schräg einfallendem Sonnenlicht ein subtiles Changieren im Glanz der Fassadenoberfläche geschaffen.
Nachhaltigkeit
Da der Bau keinen Keller aufweist, musste die gesamte Haustechnik im 3. OG, dem Technikgeschoss untergebracht werden. Für das Projekt war die von der Bauministerkonferenz beschlossene EnEv-2009-50 % verbindlich. Sie besagt, dass alle öffentlichen Bauten nur halb so viel Energie verbrauchen dürfen, wie es die EnEv 2009 festlegt. Sie müssen also doppelt so sparsam sein wie reguläre Bauten. Diese Auflage erfordert deutlich umfangreichere Dämmungspakete, die zu erheblich größeren Abständen innerhalb der Fassade führen, die statisch zu berücksichtigen sind. So musste im Bereich der Attika mit deutlich größeren Überständen und Auskragungen gearbeitet werden, genauso wie die Fassadenlasten mit aufwändigen Traversenkonstruktionen abzufangen waren.
Versorgt wird das Seminargebäude über das Fernwärmenetz der Universität. Einer Photovoltaik- oder einer Solarthermieanlage bedurfte es nicht. Stattdessen wurde das Dach extensiv begrünt und das anfallende Regenwasser auf der gut 680 m² großen Dachfläche in Rigolen gesammelt, um es als Brauchwasser in den Toilettenspülungen zu nutzen.
Bauzeit und Kosten
Obwohl das Hochschulförderprogramm HEUREKA des Landes Hessen schon 2007 aufgelegt wurde, wurde mit dem Bau erst Ende 2014 begonnen. Dennoch ging dieser nach nur knapp anderthalb Jahren Bauzeit zum Beginn des Wintersemesters 2016 in Betrieb. Die Vorplanungen der Architekten begannen noch einmal ein Jahr zuvor; insgesamt beliefen sich die Baukosten auf rd. 8 Mio. Euro.
Robert Mehl, Aachen