Projektart:
Anfrage:
Objekt:
Camp's 🔗
Typ:
Senffabrik
Ort:
Oudenaarde [Satellit]
Staat:
Belgien
Architekt:
Materialien:
Betonfertigteile
Publiziert:
Beton Bauteile 2019
Seiten:
64 - 71
Inhalt:
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Camp's Senffabrik, Oudennaarde/B

Revolutionsarchitektur als Industriebau

Im belgischen Oudennaarde ist eine kleine Produktionsanlage für Lebensmittel entstanden, deren Formensprache an die Revolutionsarchitektur des ausgehenden 18. Jhd. erinnert. Der Betonfertigteilbau gibt sich geschlossen, auch weil viele Innenbereiche Lagerflächen sind.
Claude- Nicolas Ledoux und Étienne- Louis Boullée hätten an dem Bau wohl ihre wahre Freude gehabt. Sie zählten zu den Hauptvertretern der Revolutionsarchitektur, einer Frühphase des Klassizismus, die ihre kurze Blüte während der Herrschaft Napoleon Bonapartes hatte. Sie verband die Idee einer auf klaren Geometrien aufbauenden Architektur, die natürlich noch stark von der Barockzeit geprägt war, mit ersten Überlegungen zur Ergonomie und einem funktionalen Nutzen für die Arbeiter. Im Zuge der Restauration, dem Neuerstarken der alten Kräfte, traten diese Ideen in den Hintergrund und wurden erst weit über 100 Jahre später in der Moderne neu entdeckt.
Ein Tempel der Arbeit
Ben Deckock, heutiger Inhaber von Camps, lernte die Architekten Saar Meganck und David Dhooge auf privatem Wege kennen und beauftragte das Paar direkt. Hinsichtlich der Ausführung gab er ihnen eine Carte Blanche und wünschte sich allein einen meditativen Arbeitsort. Einen Platz, an dem die handwerkliche Tätigkeit ganz im Vordergrund steht, der dieser auch Würde verleiht, der aber durch eine sinnfällige produktionsbezogene Abstimmung seiner Architektur auch eine Aufenthaltsqualität erhält. Hier zieht Decock die Parallele zu einem Kloster und der aktiv gelebten Einstellung "ora et labora" - Bete und Arbeite. Er möchte, dass aus der Architektur die Kraft geschöpft wird, besonders gute Arbeit zu leisten. Weitere klösterliche Anklänge finden sich bei dem Projekt jedoch nicht, gebaute Analogien etwa zum Klosterplan von St. Gallen, dem Archetypus aller Klostergrundrisse, sucht man hier vergebens.
Vom Horizontalen ins Vertikale
Stattdessen haben sich Saar Meganck und David Dhooge intensiv mit den Produktionsabläufen in der Senffabrikation beschäftigt und die Arbeitsschritte sogar bewusst als Werktätige nachvollzogen. Schnell erkannten sie noch an dem alten Standort, dass ein Großteil der körperlichen Arbeit das Heben und Fortbewegen von Schüttgut ist, und entwickelten die Idee, dass diese Aufgabe doch die Schwerkraft übernehmen könnte. So platzierten sie die Vorratssilos unterm Dach (bzw. in einem Turmaufbau leicht darüber), verlegten das Abmischen und das Kochen in das 1.OG und konzentrierten das Abfüllen und den Versand im Erdgeschoss.
Die zweite Erkenntnis ihrer Tätigkeit in der Produktion war, dass das Abfüllen der Ware in verschiedene Gebindegrößen, das Verpacken, Lagern und Bereitstellen derselben eine logistische Kreisbewegung beschreibt. Denn meist ist es immer nur der firmeneigene LKW, der die Zutaten anliefert und die fertige Ware an den Großhandel ausliefert. Es ist nicht erforderlich, jeweils ein Tor für den Wareneingang und -ausgang vorzuhalten, solange hinter der Verladestation ein kreuzungsfreier Warenkreislauf gewährleistet ist.
Arbeitstelle mit Aufenthaltsqualität
"Die meisten Produktionsstätten für Lebensmittel sind pragmatisch nach Erfordernissen der Hygiene organisiert!", erklärt Ben Decock "Sie folgen in der Regel dem Haus-im- Haus- Prinzip: Es gibt eine äußere Halle mit Verwaltung und allen Nebenräumen. In dieser befindet sich eine zweite, mit einem restriktiv gesicherten Hygienebereich. Den kann man natürlich leichter sauber halten, allerdings sehen dann die Arbeiter während einer Schicht kein Tageslicht, sondern nur weiße Kacheln!"
Das wollte Decock nicht. Er räumt ein, dass ihm hier das stark essighaltige und daher auch desinfizierend wirkende Produkt hier ein Stück weit entgegenkommt, denn die Auflagen seiner Produktionsstätte sind bei weitem nicht so hart wie etwa die einer Fischfabrik. Tatsächlich hat die Offenheit seiner Produktion auch den Effekt, dass überall ein subtiler Essiggeruch wahrnehmbar ist.
Fertigteile als Material der Wahl
Die Konstruktion der kaum 600 m² großen Produktionshalle erfolgte in konventioneller Betonfertigteilbauweise für Industriehallen: Entsprechende Stützen wurden auf eine Bodenplatte gestellt, Horizontalträger und Hohlraumdecken dann in diese eingehängt, so dass ein dreidimensionales Pfosten/Riegel- Gitter entstand. Vor dieses hängten dann die Architekten die Fassadenelemente, eine 31 cm starke Sandwichkonstruktion, bestehend aus einer 12,5 cm starken Innenschale, 10 cm Hartschaumdeckung und einer 8,5 cm starken Außenschale. Obgleich die Fertigteile als Sichtbeton verwendet wurden, weisen sie keine erhöhten Oberflächenqualitäten auf. Die Flächen wurden weder besonders poliert, noch gesandstrahlt oder hinterher hydrophobiert. Auch der verwendete Beton kommt ohne besondere Weißpigmente oder andere Zuschläge aus. Günstig war, dass die Firma Seveton Prefab Systems, die die Fertigteile für die bauausführende Willy Naessens Group herstellte, quasi um die Ecke liegt.
Entgegen der gängigen Strategie, die Fassadenbauteile in Fensterachsen zu zerlegen, folgen die Elemente weitgehend den sichtbaren Fugenstößen. Eine jede Fensteröffnung ist damit von vier verschiedenen Betonbauteilen umgeben. Scheinfugen finden sich hingegen dort, wo echte Trennungen konstruktiv keinen Sinn machten, etwa im Scheitelbereich des großen Torbogens. Dort sitzt ein durchgehender Sturz. Zusammengefasst zu einem Großbauteil mit Schattenfugen wurden die Elemente auch immer dann, wenn ihre Befestigung an der Tragkonstruktion sonst nur erschwert möglich war. Denn der an Zyklopenmauerwerk erinnernde Fugenschnitt orientiert sich nicht am Gebäuderaster. Auch das Dach der Fabrikhalle besteht aus Betonhohlraumplatten, die eine Aufdämmung erhielten, und ist mit einer weißen PE- Bahn abgedichtet. Eine niedrige Attika, auf Flämisch Opstand genannt, vermittelt zum oberen Wandabschluss. Ihr markanter zweiteiliger Fries setzt sich ebenfalls aus vorgefertigten Betonelementen zusammen und zitiert einmal mehr die Herren Ledoux und Boullée.
Ehrliche Arbeit sichtbar gemacht
Ben Decock ist studierter Psychologe, der viele Jahre in der Administration von Lebensmittelkonzernen tätig war. Da sie ohne eigene Nachkommen waren, verkauften 2010 die Gebrüder Albert und Robert Van Camp den 1905 gegründeten Familienbetrieb an den interessierten Quereinsteiger. Dieser schätzt an seiner neuen Lebensaufgabe die tägliche Herstellung eines realen Produktes. Diese Authentizität lebt er mit seiner kleinen Firma aus gerade einmal acht Mitarbeitern, in der er tagtäglich selber an den Kochmaschinen steht. Da auch der Bau diese Idee in sinnfälliger Weise verkörpert, wundert es nicht, dass die Politik ihn wiederholt als positives Beispiel einer Arbeitsstätte aufgegriffen hat. So wurde er etwa im belgischen Pavillon auf der 16. Architekturbiennale in Venedig vorgestellt.
Robert Mehl, Aachen