Projektart:
Anfrage:
Objekt:
Atlas des Dazwischenwohnens
Typ:
Buchkritik
Ort:
diverse [Satellit]
Staat:
Schweiz
Architekt:
Angelika Juppien 🔗, Richard Zemp 🔗 (Autoren)
Materialien:
Soziale Interaktion, Ortsidentifikation
Publiziert:
baublatt 05/2023
Seiten:
22 - 24
Inhalt:
[Artikel]      
 

Atlas des Dazwischenwohnens

Vom Abenteuer, Freiräume zu entdecken

In ihrem architekturpsychologischen Werk zeigen Angelika Juppien und Richard Zemp auf, wie sich Bewohnerinnen und Bewohner von Mietwohnungen Nischen und Refugien rund ums Haus zu Eigen machen.
Wohnt man seit Jahren in derselben, als positiv wahrgenommenen Mietsituation, so wird man schnell das beschriebene Phänomen nachvollziehen können: Der für alle Hausbesucher offensichtlichste Hinweis eines "Dazwischenwohnens" ist die geduldete Ausdehnung des offiziell vermieteten Wohnraums auf die vorgelagerten Flure. Das mag mit einem Kinderwagen beginnen, der im Erdgeschoss abgestellt ist, geht über Schuhe, die lediglich auf der Fußmatte abgestellt sind, steigert sich über Bilder, mit denen die Bewohner ihr Treppenhaus verschönern und gipfelt in ganzen Kommoden oder gar Schränken auf den Treppenabsätzen, in denen private Habseligkeiten, wie Schuhe oder Gartengerät verstaut sind.
Hier attestiert der "Atlas des Dazwischenwohnens" basierend auf einer Studie von Angelika Juppien und Richard Zemp, dass dieses in Altbauten häufiger passiere, da sich in deren Treppenhäusern vielfach Nischen und ungenutzte Bereiche finden, die sich für eine solche Umnutzung anbieten, wohingegen in heutigen Bauten die Treppenhäuser oft soweit optimiert sind, dass sie genau nur noch den Brandschutzbestimmungen entsprechen und daher keine weiteren Aufenthaltsqualitäten besitzen. Ausgenommen davon sind natürlich Neubauten, die eigens für eine solche Nutzung entworfen wurden. Hierauf soll aber weiter unten noch eingegangen werden.
Das Buch vermittelt ferner die Erkenntnis, dass eben nicht die ultimative Flexibilität eines Ortes von seiner Wohnqualität zeugt, sondern eine jeweils originäre Nutzungsoption, die nur genau dort möglich ist. Beispielhaft angeführt sei hier eine perfekte Nischengröße für ein bestimmtes Kinderwagenmodell oder der ideale Ort für ein Gartenfrühstück, weil nur dort morgens die Sonne hinscheint. Juppien und Zemp fassen die Ausrichtung des Buches in ihrer Einleitung wie folgt zusammen: "Das Wohnen ‚über die eigenen Wände hinaus‘ entspringt nicht bloß dem Wunsch, Defizite der Wohnung auszugleichen. Vielmehr haben wir es mit ganz grundsätzlichen Wohnbedürfnissen zu tun, die eigentlich nur ‚auf der anderen Strassenseite‘, ‚ums Haus herum‘ oder ‚vor der Wohnungstür‘ befriedigt werden können."
Neue Begrifflichkeiten
Bewusst wird in der Studie eine neue, umgangssprachlich erscheinende Begrifflichkeit eingeführt. Denn die Autoren sind zu der Überzeugung gekommen, dass Bezeichnungen wie "Abenteuer", "Zauber" oder "Tapetenwechsel", die vorgestellten baulichen Situationen treffender umschreiben als gängige Fachtermini wie "Möglichkeitsraum", "Raumaneignung" oder "Freiraumnutzung". Durch diese Wortwahl sollen im "besten Sinne positive Irritationen" entstehen, die zu neuen Denkansätzen führen. In dem Kapitel "Wohnbedürfnisse jenseits der Türschwelle" wird jeder dieser Begriffe in einem eigenen Abschnitt erläutert:
Abenteuer
Damit wird ein Freiraum umschrieben, der die Fantasie anregt, in dem neue Dinge entdeckt werden können und wo spontanes, experimentelles oder unbestimmtes ausgelebt werden kann. Für Kinder ist das etwa ein Kletterbaum, an dem man vielleicht noch eine Schaukel befestigen und unter dem man vielleicht auch noch spontan Frühstücken kann.
Engagement
Hiermit wird ein Ort angesprochen, der grundsätzlich ohne eine weitere Pflege auch funktionieren würde, etwa ein karger Innenhof oder ein Vorgarten mit belangloser Bepflanzung. Stellt man dort nun Pflanztöpfe auf und hegt und pflegt man diese zuvor unbeachtete Grün- bzw. Freifläche, kann ein kleiner Garten entstehen, für den sich der Anwohner verantwortlich und sich heimatlich verbunden fühlt.
Landnahme
Dieser Begriff beschreibt im weitesten Sinne das Fachwort Aneignung. Dies kann sich, wie im ersten Abschnitt schon beschrieben, etwa mit dem Aufstellen von Schuhkommoden im Treppenhaus äußern, es kann aber genauso eine kontinuierliche Nutzung eines bestimmten, kleinräumlichen Hofareals bedeuten. Die Autoren denken dabei vor allem an Tische und Bänke, die in ausgewählten Hofnischen stehen, und die auch nur bestimmten Bewohnern vorbehalten sein können. Dabei kann die Art von deren Zuteilung und Nutzung den unterschiedlichsten Regeln und Rechten folgen.
Tapetenwechsel
Dieser Begriff umschreibt die Option eines vorübergehenden Rückzugs aus den eigenen vier Wänden für eine Pause von alltäglichen Pflichten und Tätigkeiten. Hier gilt – genauso wie für den Begriff Abenteuer – dass dieser Ort nicht zwingend auf dem bewohnten Grundstück liegen muss, sondern stadträumlich nahe liegt. Es kann sich also beispielsweise auch um eine bestimmte Parkbank handeln oder auch um ein Café, das um die Ecke liegt.
Zauber
Dies beschreibt eine Situation, einen Ort, Ausblicke oder Dinge, die als einzigartig empfunden werden und die eine spezielle Stimmung oder Faszination hervorrufen. Der Autor dieser Zeilen assoziiert mit diesem Begriff persönlich die halböffentliche Hinterhausterrasse des Mietshauses, in dem er wohnt. Von dort lässt sich regelmäßig ein großes Kirmesfeuerwerk beobachten, ohne dass dafür das Haus verlassen werden muss.
Orte des Dazwischenwohnens
in diesem 37-seitigen Kapitel werden mit Hilfe von Sofortbildaufnahmen 47 Orte vorgestellt, die die Verfasser dieser Studie ausfindig gemacht haben und bei denen sich vielfältige Formen des "Dazwischenwohnens" zeigen. Kategorisiert wurden diese Orte in drei, immer intimer werdende Gruppen: "Auf der anderen Strassenseite", "Um das Haus herum" und "Vor der Wohnungstür".
Sechs Fallbeispiele
Zu verorten sind all diese 47 Orte in sechs verschiedenen Siedlungen, davon befinden sich vier in der Schweiz und zwei in Deutschland. Sie alle wurden begutachtet, umfassend begangen und zudem mit deren Bewohnern ausführliche Interviews geführt. Auch mit den Eigentümern wurde das Gespräch gesucht und zusätzlich die wohnrechtliche Struktur in Organigrammen aufgeschlüsselt. Untersucht wurden die folgenden Objekte:
Buddelenhof Luzern
Das Objekt ist eine sechsgeschossige Blockrandbebauung, die einen annähernd rechteckigen, nicht nach verdichteten Innenhofbereich umschreibt. Das Areal weist einen parkähnlichen Baumbestand auf und ist nur in seinen Randbereichen mit Strassenbelägen versiegelt. Das Ensemble entstand im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts und ist von der Moosmatt-, der Eichmatt-, der Volta- und der Rhynhauser Strasse eingefasst.
Erismannhof, Zürich
Der Erismannhof beschreibt eine fünfgeschossige Wohnanlage in Zürich Aussersihl an der Ecke Erismann und Hohlbahnstrasse. Das aus insgesamt fünf freistehenden, jedoch die Strassen begleitenden Baukörpern bestehende Ensemble, in dessen langgestrecktem Innenhof sich zudem heute ein städtischer Kindergarten befindet, entstand zwischen 1926-28 und wurde zwischen 1989-91 umfassend saniert.
Granitzstrasse, Berlin
Das viergeschossige Haus liegt in Berlin unweit des S- Bahnhofs Pankow, wurde zwischen 1901-10 errichtet und befindet sich in Privatbesitz. Der gründerzeitliche Bau ist geprägt von einer maximalen Raumausnutzung durch Seiten- und Querflügel, seine Qualitäten im Dazwischenwohnen zeigen sich in den vielfältigen "Fluchtmöglichkeiten" im Aussenraum (vgl. Kapitel "Auf der anderen Strassenseite")
Hellmutstraße, Zürich
Das Ensemble liegt unweit des Erismannhofs ebenfalls an der Hohlstrasse, Ecke Hellmutstrasse und entstand in den Jahren 1990-91. Das Ensemble besteht aus einem dreigeschossigen Riegel und einem quadratischen Kopfbau, von dem breite Laubengänge die Wohnungen erschliessen. Das Objekt ist genossenschaftlich organisiert und verwaltet sich selber.
Im Werk, Uster
Bei diesem ebenfalls genossenschaftlich organisierten Wohnobjekt finden sich neben der Verwaltungsform architektonische Parallelen zu dem zuvor aufgeführten Projekt: Auch dieses ist dreigeschossig, nur knapp sieben Jahren jünger. Hier wie dort besteht die Fassade aus einer steinsichtigen Kalksteinfassade, die eine Unfertigkeit suggerieren und zur Aneignung motivieren soll. Darüber hinaus erfolgt auch hier die Erschließung mittels überbreiter Laubengänge, die ebenfalls rege von den Bewohnern angeeignet wurden. Die Adresse entspricht dabei dem Projektnamen.
Paul- Singer- Strasse, Teltow
Bei der letzen Fallstudie handelt es sich um einen zweigeschossigen, langgezogenen Gebäuderiegel mit Satteldach, der um die Jahrtausendwende saniert wurde. Das Gebäude ist von ausnehmend kleinen Wohnungen gekennzeichnet und die Bewohner vereinnahmen deshalb intensiv die zahlreichen Nischen und Vorgartenbereiche als persönliche Wohnungsergänzungen, die gleichsam einen Fluchtmöglichkeit aus dem beengten Innenraum darstellen.
Fazit
Der "Atlas des Dazwischenwohnens" sensibilisiert den Leser anhand sinnfälliger Beispiele und präziser Analysen auf analoge Gegebenheiten in dessen jeweiligen Lebensumfeld. Es scheint fast so, dass – sofern man nicht im Eigentum wohnen sollte, den Ort jedoch als seine Heimat begreift – sich solche Entsprechungen automatisch einstellen. Tatsächlich konnte der Autor für jeden der fünf Schlüsselbegriffe und für alle drei Kategoriegruppen ein räumlich-materielles Pendant in seinem eigenen Wohnumfeld ausmachen.
Robert Mehl, Aachen
https://www.baublatt.ch/kommunal/atlas-des-dazwischenwohnens-vom-abenteuer-freiraeume-zu-entdecken-34039
Buchangaben: Atlas des Dazwischenwohnens Wohnbedürfnisse jenseits der Türschwelle Angelika Juppien und Richard Zemp. Herausgegeben von der Hochschule Luzern, Institut für Architektur (IAR) und Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP) Park Books ISBN 978-3-03860-301-6 Text auf Deutsch SFR 39,00 EUR 38,00