Projektart:
Anfrage:
Objekt:
Typ:
Autobahnraststätte
Ort:
Erstfeld [Satellit]
Staat:
Schweiz
Architekt:
alp-architektur 🔗, Luzern
Materialien:
Schweizer Weisstanne
Publiziert:
SBD 06/2020
Seiten:
44 - 53
Inhalt:
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Autobahnrasthof Gotthard- Süd, Erstfeld

Entschleunigung total

An der Gotthardautobahn wurde im Urner Reusstal der Rasthof in Fahrtrichtung Süd durch einen Neubau ersetzt. Mit der Entwurfsidee strebt man einen maximalen Erholungswert an sowie eine typologische Annäherung an den Alpenraum und dessen typische Bauformen.
"Keiner von uns hätte erwartet, dass die Reuss so unmittelbar am Rasthof vorbeifließt!", stellt Nicole Renggli- Frey vom Luzerner Büro alp - architektur Lischer partner fest. Dieses hatte den Realisierungswettbewerb für den Ersatzneubau der angejahrten Autobahnraststätte gewonnen. Die Reuss entzog sich infolge ihrer Eindeichung dem Blick: Man sah nur einen Erdwall, in heutiger Zeit ein vertrauter Topos im Rahmen zunehmenden Emissionsschutzes.
In der Wettbewerbsauslobung fragte die Bauherrenschaft nach einer Eingliederung der neuen Architektur in das bestehende, amorphe Umfeld. Daniel Lischer und sein Team begannen daraufhin, das Urnertal zu analysieren. Schnell stießen sie auf die historischen freistehenden Nadelholzscheunen und natürlich auf die typischen Plumpsklos, die kleinen freistehenden Holzverschläge - doch dazu an späterer Stelle mehr.
Knotenpunkt dreier Flüsse
Den Rasthof Gotthard Süd betrachten die Architekten als Knotenpunkt dreier Flüsse: der Fluss der Autos, der des Wassers und der Fluss der Radfahrer, denn auf erwähntem Deich verläuft ein beliebter Radweg. Er beginnt am Vierwaldstättersee und geht letztlich in den Weg für den Langsamverkehr zum Gotthard über – die alte, heute verkehrsberuhigte Passstraße, nunmehr ausgebaut als Rennradweg.
Seit August 2020 überspannt zudem eine Hängebrücke die Reuss auf Höhe des Rasthofes. Sie wurde von der Conzett Bronzini Partner AG aus Chur realisiert und bindet nicht nur einen Wanderweg, sondern eine echte Walduferwiese zum Picknicken an den Rasthof an.
Über sechs Stufen schreitet man im neuen Rasthof durch eine lichtdurchflutete Eingangshalle auf das Dammkronenniveau hinauf, die heutige Hauptebene. Hier befinden sich der Selbstbedienungsbereich, der große Speisesaal und die zur Reuss hin orientierte Außenterrasse. Der Shopbereich liegt hingegen weiterhin auf Parkplatzhöhe. Die Toiletten sind nicht versteckt im Keller, sondern hell im Obergeschoss inszeniert.
Baukonstruktion
Der neue Rasthof Gotthard- Süd nutzt weiter die bestehenden Kellerbereiche, insbesondere einen logistischen Verbindungstunnel zum gegenüberliegenden Rasthof der Nordrichtung. An den Bestand angearbeitet wurde ein neuer Betonsockel zur Erreichung der Dammkronenhöhe. Als Zuschlag für diese Ortbetonkonstruktion wurde Flusskies der Reuss verwandt. Darauf steht die signifikante Holzkonstruktion, die in vier zueinander leicht versetzte Gebäudeabschnitte geteilt ist. Auch damit werden Assoziationen zu heterogenen Scheunenbauten geweckt. Getragen werden die Satteldächer von einer Schar aus rund 10 m langen Fichtenleimholzbindern. Sie überspannen stützenfrei die Innenräume, um im First momentenfrei aneinanderzustoßen.
Entsprechend den sichtbaren Gebäudeabschnitten ist der Rasthof in vier Nutzungen aufgeteilt: den Speisesaal, den Selbstbedienungsbereich, die Eingangshalle mit Glasdach und Wilhelm- Tell- Skulptur sowie den Shop. Die Toiletten sind oberhalb des Selbstbedienungsbereiches angeordnet. Da in dessen Fußboden nicht nur die WC- Fallrohre, sondern auch die Küchenhaustechnik zu integrieren war, arbeiteten die Architekten hier mit einem Massivbau aus Betonfertigteildecken und ebensolchen Rundstützen. Nach dem Haus-im- Haus- Prinzip ist dieser in die Holzkonstruktion eingestellt.
Toiletten von zentraler Bedeutung
Kaum ein anderer Ort wird nach der Attraktivität seiner Toiletten beurteilt wie ein Autobahnrasthof. Insofern waren die Architekten bestrebt, nicht nur einen ortstypischen Flair, sondern auch eine subtile Außenraumbeziehung zu schaffen. Begünstigt wurde dies durch die Anordnung der Toiletten im Obergeschoss, die diskrete Blickbezüge in die umgebende Alpenlandschaft gestattet. Bewusst haben sich die Planer für Einzeltoiletten entschieden und nicht für deren Anordnung in Reihe. Dennoch konnten sie den Nachweis über die vorgeschriebene Anzahl erbringen. Mit diesem Detail bedienten sie bewusst das eingangs erwähnte Plumpsklobild, das sie mit einer romantischen Alpenreise assoziieren. Um dieses Bild abzurunden, wurden die Toilettentüren mit sägerauen Latten aus Weißtannenholz aufgedoppelt.
Voller Durchblick
Die äußere Anmutung des Rasthofes ist geprägt von den vertikalen "Verschleißbrettern" der Fassade. Sie zitieren das historische Scheunenmotiv, fungieren aber auch als konstruktiver Sonnenschutz für die dahinterliegende und deshalb nur leicht getönte Verglasung. Erstellt wurde die Vertikallattung aus Schweizer Weißtanne aus dem Napfgebiet – eine weitere Hommage an den umgebenden Naturraum.
Die heißen Tage der letzten Sommer haben gezeigt, dass das Wärmekonzept funktioniert. Aus dem Innenraum heraus hat man einen fulminanten Blick in die umgebende Alpenlandschaft, vor allem auf den benachbarten Berg Tschingelflue.
Robert Mehl, Aachen